
17
Ich legte meine Hand auf Cyrenes Mund, bevor sie Luft holen konnte, um zu schreien. »Gib keinen Laut von dir«, flüsterte ich ihr ins Ohr. Sie riss die Augen auf und wehrte sich gegen meine Hand. »Da vorne steht ein Irrer mit einem tödlichen Schwert«, zischte ich.
Sie hörte auf, sich zu wehren, und nickte. Ich ließ sie los und blickte wieder durch den Türspalt. Fiat stand an der offenen Tür gegenüber und rief jemanden. Zwei seiner Leibwächter und zwei andere Drachen stürmten ins Zimmer.
»Macht das weg«, sagte er nonchalant und wies dorthin, wo Bao gestanden hatte. Die Wachen verzogen genauso fassungslos das Gesicht wie wir.
»Worauf wartet ihr?«, fuhr Fiat sie an, als die Männer sich nicht rührten. Offensichtlich waren sie zu entsetzt, um etwas zu tun. »Macht das weg und wischt alles sauber. Ich habe zu viel zu tun, als dass ich mich auch noch darum kümmern könnte, dass die roten Drachen mir keine Probleme machen.«
Einer der Bodyguards ergriff eine Decke, die über einem Sessel lag, und verschwand aus meinem Blickfeld. Als er wiederkam, konnte ich nur vermuten, dass sich in der Decke Baos Körper befand. Ein anderer Mann folgte mit einem ebenfalls eingewickelten Objekt.
»Wischt das Blut weg«, bellte Fiat und wedelte mit der Hand.
»Und entfernt alle Spuren von ihr. Stephano, geh nach oben und kümmere dich um ihre Wachen. Ein gut aussehender blonder Mann zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Schick sie einfach weg«, grollte Fiat. »Ich will nicht, dass sie mir hier in die Quere kommen.«
Stephano zögerte einen Moment, nickte dann aber und verschwand.
Ich zog vorsichtig die Tür zu und wandte mich mit klopfendem Herzen an Cyrene und Maata. Cyrene wirkte völlig fassungslos, aber Maata verzog keine Miene. Nur ihre Augen verrieten ihre Gefühle.
»Wir müssen hier raus«, sagte ich leise zu ihnen. »Fiat darf auf keinen Fall wissen, dass wir hier waren und ihn gesehen haben.«
»Ja, wir gehen so zurück, wie wir gekommen sind«, sagte Maata.
Sie wartete, bis Cyrene und ich im Tunnel waren, bevor sie uns folgte.
»Das bedeutet aber, dass wir wieder durch den See tauchen müssen«, sagte ich zu ihr und schaltete die winzige Taschenlampe ein. Sie verzog das Gesicht. »Das ist nicht zu ändern. Wir müssen Gabriel die Neuigkeiten berichten.«
Der Gang durch Fiats Tunnel war nicht wirklich gefährlich.
Zwar war es wieder ein kleiner Kampf, Maata durchs Wasser zu bekommen, aber letztendlich gelang es uns, indem wir sie wieder in Tiefschlaf versetzten.
Dabei schluckten wir jedoch beide reichlich Wasser, und als wir schließlich hustend und keuchend am Ufer lagen, hörte ich Maata murmeln, dass sie nie wieder auf mich aufpassen würde. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Gabriel jedoch war anderer Meinung, und das machte er auch unmissverständlich klar, als wir einige Stunden später in der Suite in Paris eintrudelten.
»Du hast was getan?«, fragte er Maata, und seine Stimme klang gar nicht so samtig wie sonst. Er ballte die Faust, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er aufgebracht war.
»Du kannst so viel schreien, wie du willst. Ich gehe zu Kostya«, sagte Cyrene, die tiefe Schatten unter den Augen hatte. Ohne sich zu verabschieden, verließ sie das Zimmer.
»May wollte den Mann verfolgen, den sie für Baltic hielt. Ich bin zu keinem Zeitpunkt von ihrer Seite gewichen, und wir waren nicht in Gefahr...«, hörte ich Maata sagen, als ich zum Schlafzimmer ging. Ich blieb jedoch stehen, als Gabriel ein Wort grollte, das ich nicht kannte.
Maatas Gesicht war zu einer versteinerten Maske erstarrt. »Es tut mir leid, Gabriel. Ich dachte...«
»Nun, mir tut es nicht leid, kein bisschen«, unterbrach ich sie, bevor sie sich weiter entschuldigen konnte.
Tipene saß an einem Tisch hinten im Zimmer und tippte etwas in einen Laptop, blickte aber zwischendurch immer wieder zwischen seinem Wyvern und Maata hin und her.
»Mein kleiner Vogel«, setzte Gabriel an, aber ich hob die Hand.
»Du brauchst gar nicht erst zu versuchen, mir zu sagen, dass mich das nichts angeht. Maata war dagegen, den geheimnisvollen Drachen zu verfolgen, aber ich fand, die Chance herauszufinden, wer er ist, war das Risiko wert. Wenn du also an jemandem deine Wut auslassen musst, dann an mir und nicht an ihr.«
Einen Moment lang sah Gabriel so aus, als wolle er explodieren, aber plötzlich entspannte er sich und schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Drake hat mir gesagt, dass du mich wahnsinnig machen würdest. Ich dachte, das läge nur daran, dass Aisling es häufig zu toll treibt, aber allmählich wird mir klar, wie recht er gehabt hat.«
»Nur dass du viel flexibler und nicht annähernd so stur bist wie Drake«, erwiderte ich lächelnd. Ich legte ihm die Hände auf die Brust und streichelte über den weichen Stoff seines Hemdes, wobei meine Finger kleine Feuerspuren hinterließen.
»Wenn dir erst einmal klargeworden ist, dass wir uns zu keiner Zeit in Gefahr befunden haben, lässt du diese überfürsorgliche Männernummer sein, lehnst dich entspannt zurück und hörst zu, was wir dir zu erzählen haben, habe ich recht?«
»Grrr«, erwiderte er und ballte immer noch die Faust.
»Habe ich recht?«, gurrte ich, rieb meine Nase an seiner und biss ihn in die Unterlippe.
»Wenn du mich in gute Laune versetzen willst, dann musst du dich schon ein bisschen mehr anstrengen«, antwortete er, aber seine Augen leuchteten interessiert. Liebe, Lust, Verlangen, alles stieg bei seinen Worten in mir auf, aber ich ließ die Hände sinken und trat entschlossen einen Schritt zurück. Ich wollte mich nicht schon wieder verlieren.
»Später vielleicht. Wir haben dir wichtige Neuigkeiten zu erzählen, und ich glaube nicht, dass sie warten können.«
Ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht, aber er war schon wieder verschwunden, bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte. »Ich habe auch Neuigkeiten für dich, aber erzähl du zuerst von dem Drachen, dem du gefolgt bist.«
Maata murmelte etwas und huschte hinaus, um sich umzuziehen.
»Sie hat viel durchgemacht, weißt du«, sagte ich zu Gabriel, als er mich zur Couch führte. »Der einzige Weg in Fiats Haus führte durch den See.«
Er sah so aus, als ob ihn schauderte.
Als Maata wieder aus ihrem Zimmer kam, lächelte ich sie an.
»Den Teil, wie wir in den Tunnel gelangt sind, lassen wir aus«, sagte ich. Sie verzog das Gesicht und setzte sich zu Tipene an den Tisch. Ich erzählte Gabriel, wie wir zu den Räumen im Untergeschoss von Fiats Haus gelangt waren, und gab das Gespräch zwischen Fiat und den anderen Drachen wieder.
»Hast du den Mann dieses Mal besser gesehen?«, fragte Gabriel.
»Den dunkelhaarigen Mann? Nicht sein Gesicht. Er hatte mir den Rücken zugewandt, und als ich ihn vorher auf dem Platz gesehen habe, war er teilweise im Schatten.«
»Interessant. Beschreib ihn mir«, bat Gabriel. Er legte mir die Hand aufs Knie und schloss die Augen.
Ich begann ihn zu beschreiben, aber plötzlich fiel mir etwas ein. »Irgendetwas stimmt da nicht. Ich glaube, ich irre mich. Er kann nicht Baltic sein.«
Gabriel öffnete die Augen und blickte mich an. »Warum nicht?«
Ich wiederholte noch einmal das Gespräch. »Fiat sagte zu Bao, diesen Rat, dass die Macht zum Wyvern fließen muss, habe er schon einmal von Baltic bekommen. Wenn der Mann Baltic war, warum sollte er es denn noch einmal sagen?«
Gabriel zuckte mit den Schultern. Sanft streichelte er mein Knie, und ich musste gegen das Feuer ankämpfen, das sich in mir entzündete. »Er hat ihn auch alter Freund genannt, und der Drache hat erwähnt, dass Fiat ihm geholfen habe. Das passt zu dem, was Drake vor ein paar Monaten mit Aisling in Fiats Lager gefunden hat.«
»Das erklärt aber nicht, warum Baltic lebt, wo doch Kostya schwört, ihn getötet zu haben.«
»Nein, das erklärt es nicht.« Nachdenklich blickte Gabriel vor sich hin. Ich wollte ihm gerade das Wichtigste an der ganzen Geschichte erzählen, als er sagte: »Erzähl mir von der Frau, die bei ihm war.«
»Die Rothaarige?« Ich runzelte die Stirn und versuchte, mich genau zu erinnern. »Ich weiß nicht, was ich über sie erzählen soll. Sie sah völlig normal aus, relativ groß, mit kupferroten Haaren und einem leichten deutschen Akzent. Und sie war ein Drache.«
»Nein«, sagte Maata und blickte von ihrem Laptop auf. Ich blickte sie überrascht an. »Bist du sicher? Für mich fühlte sie sich wie ein Drache an.«
»Sie war kein Drache«, beharrte Maata. »Sie hatte Drachenblut, ja, aber sie war kein Drache.«
»Ein Mischling, meinst du?«, fragte ich. Ich blickte Gabriel an. »Ist das nicht die Definition eines Wyvern?«
»Nicht unbedingt«, erwiderte er. »Ein Wyvern muss einen menschlichen Elternteil und einen Drachen-Elternteil haben.«
»Ich sehe da keinen Unterschied.«
»Die Frau bei dem dunkelhaarigen Drachen war nicht menschlich«, sagte Maata und warf Gabriel einen rätselhaften Blick zu.
»Oh, jetzt verstehe ich. Du meinst, sie hatte einen Drachenvater und eine nicht-menschliche Mutter, wie zum Beispiel eine Sylphe oder so?«
Maata nickte.
»Du scheinst ja sehr an ihr interessiert zu sein«, sagte ich und warf dem Mann an meiner Seite einen prüfenden Blick zu.
»Soll ich einen Eifersuchtsanfall kriegen oder einfach nur in kupferfarbene Haartönung investieren?«
Gabriel ließ kurz seine Grübchen aufblitzen. »Keins von beiden!. Interessiert bin ich nur an dem, was die Frau nicht ist.«
»Du meinst also, es ist nicht Ysolde?«, fragte ich.
Er nickte. »Wer auch immer diese Frau ist, sie ist nicht Ysolde. Und dann könntest du natürlich recht haben, und der Mann war nicht Baltic.«
»Weil Ysolde seine Gefährtin war, und wenn sie gestorben ist, dann wäre er auch tot, oder? Ja, das stimmt.« Ich verschränkte meine Finger mit seinen. Der Kontakt beruhigte mich, aber dann entschied das Stück Drachenherz, dass es nach mehr verlangte. Ich stand auf und trat ans Fenster und blickte hinaus auf das verregnete Paris.
»Ysolde soll Constantine Norkas Gefährtin gewesen sein, nicht Baltics«, sagte Gabriel in neutralem Tonfall. Ich lehnte mich gegen die Scheibe und blickte ihn fragend an.
»Das klingt so, als ob du dir nicht sicher wärst.«
»Mit Gewissheit kann ich gar nichts sagen - ich stelle nur die Fakten fest, wie sie allgemein bekannt sind. Abgesehen von der Identität dieser Frau wächst meine Neugier, diesen geheimnisvollen Drachen kennenzulernen.«
Ich blickte zu Maata. Sie beobachtete mich aufmerksam. Offensichtlich wollte sie es mir überlassen, Gabriel das Wichtigste zu erzählen.
»Da ist noch etwas«, sagte ich. »Kurz nachdem dieser Drache, wer auch immer er sein mag, gegangen ist, gerieten Fiat und Bao in Streit.«
»Das überrascht mich nicht«, meinte Gabriel. »Fiat war schon immer reizbar, und im Moment scheint er besonders angeschlagen zu sein.«
Ich holte tief Luft. »Mehr, als du dir vorstellen kannst. Er hat Bao geköpft.«
Zu meinem großen Erstaunen nickte er nur. »So etwas habe ich schon erwartet.«
»Du hast es erwartet?«, fragte ich. »Warum?«
»Es passt zu dem, was ich erfahren habe«, sagte er und stand auf, um meine Hände zu ergreifen. »Zwei Stunden, bevor du in Paris gelandet bist, hat Fiat eine Botschaft an den Weyr geschickt und verkündet, er habe Bao als Wyvern über die rote Sippe herausgefordert und besiegt.«
»Das hat er keineswegs getan. Er hat sie einfach nur ermordet«, erwiderte ich aufgebracht. »Es gab keine verbale Herausforderung - er hat ein Schwert von der Wand genommen und ihr den Kopf abgeschlagen. Oder zumindest nehmen wir das an; zum Glück haben seine Männer die Teile ihrer Leiche in Decken eingewickelt hinausgebracht.«
»Er hat eindeutig die Gesetze des Weyr übertreten und muss sofort zur Rechenschaft gezogen werden.« Gabriel blickte an mir vorbei aus dem Fenster. »Das Problem ist...«
»May! Da bist du ja wieder! Wie ich mich freue, dich zu sehen!«
Gabriel erstarrte bei Sallys heller, fröhlicher Stimme. Sie kam ins Zimmer geeilt, in einem rüschenbesetzten pinken Oberteil und einer lavendelfarbenen Caprihose, strahlte vor Freude und gab mir zwei Luftküsse auf die Wangen.
»Hallo, Sally«, sagte ich gedehnt. »Du bist ja immer noch hier.«
»Sie behauptet, sie kann einfach nicht gehen«, warf Gabriel mit absolut ausdrucksloser Stimme ein. Wahrscheinlich war das sein Versuch, höflich zu sein.
Sally kicherte und warf ihm einen koketten Blick zu. »May, wir haben so viel zu besprechen. Dieser dumme Magoth brauchte Zeit für sich - du weißt ja, wie Männer sind. Immer denken sie, die Welt dreht sich nur um sie, und dabei sind es eigentlich die Frauen, die alles regeln - na ja, auf jeden Fall hat er mich hierhergeschickt, damit ich alles über das richtige Verhalten als Gemahlin lerne. Eigentlich brauchte ich es ja nicht, weil du ja weißt, dass ich für Höheres geschaffen bin als für so eine niedrige Position, wie du sie innehast. Hallo, Gabriel. Du siehst ausgesprochen gut aus.«
Meine Nackenhaare sträubten sich, als sie seinen Namen schnurrte.
»Besser als vor einer halben Stunde, als du das Gleiche zu ihm gesagt hast?«, fragte Tipene nonchalant.
Sally ignorierte ihn.
»Sally«, sagte ich freundlich lächelnd. »Weißt du noch, was ich dir am Telefon gesagt habe?«
Das verführerische Lächeln, mit dem sie Gabriel bedacht hatte, erlosch. »Ja, meine Liebe, darüber müssen wir noch reden. Zu deiner Drohung an sich kann ich dir nur gratulieren - Haare auf das Hinterteil zu kleben ist besonders erfindungsreich, und Schleifen aus Eingeweiden passen immer gut zu einer Foltersitzung aber bei manchem konnte ich dir nicht folgen. Jeder weiß doch, dass eine Drohung nur dann wirkungsvoll ist, wenn der Drohende auch in der Lage ist, sie in die Tat umzusetzen, und du bist nun wirklich nicht die Person, die ein Messer bei sich führt... oh.«
Sally gab einen kleinen Schreckenslaut von sich, als ich meinen Dolch aus der Scheide an meinem Fußknöchel zog.
»Da habe ich mich wohl geirrt«, sagte sie und trat von Gabriel weg.
»Habe ich eigentlich schon erwähnt, wie hinreißend du aussiehst, wenn du eifersüchtig bist?«, fragte mich Gabriel. Seine Augen funkelten vor Vergnügen.
»Diesen Fehler würde ich an deiner Stelle nicht noch einmal machen«, sagte ich freundlich zu Sally. »Verzeih mir meine Offenheit, aber es war ein langer Tag. Wie bringe ich dich am besten dazu zu gehen?«
»Ha!«, sagte sie und blähte die Nüstern. Sie warf Gabriel einen Blick zu. »Siehst du? Das habe ich gemeint. Sie ist wesentlich besser dazu geeignet, Magoths Gemahlin zu sein, auch wenn der arme, fehlgeleitete Narr keine Ahnung von Mays wahrem Charakter hat.«
Ich blinzelte überrascht. Sally mochte ja eine unkonventionelle Kandidatin für den Posten eines Dämonenfürsten sein, aber bis jetzt war sie Magoth immer respektvoll begegnet. »Hast du Magoth gerade einen Narr genannt?«
»Habe ich das? Ich weiß nicht; dein eklatanter Mangel an guten Umgangsformen hat mich einfach aus der Bahn geworfen. Aber man braucht keinen Knüppel, um mich zu Boden zu schlagen.« Sie hob das Kinn und warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Mir ist klar, dass du auf meine Gesellschaft keinen Wert legst. Natürlich werde ich nicht bleiben, wo ich unerwünscht bin, obwohl du deine Rolle als Gemahlin verletzt, wenn du mich fortschickst. Es wird deine sofortige Entlassung zur Folge haben. Aber das ist mir gleichgültig. Ich packe jetzt meine Sachen und gehe.«
Gabriel hielt sie auf. »Was soll das heißen, es hat Mays sofortige Entlassung zur Folge?«
»Und wieso hängt meine Entlassung damit zusammen, dass ich dich bitte zu gehen?«, fragte ich.
Sally schniefte beleidigt. »Wenn du dir die Zeit genommen hättest, den betreffenden Abschnitt in der Doktrin des Unendlichen Bewussten zu lesen, dann wüsstest du, dass die Gatten von Dämonenfürsten die in der Doktrin festgelegten Gesetze befolgen müssen. Jede Zuwiderhandlung hat die Aufhebung des Vertrags zur Folge, dem du zugestimmt hast, als du Magoths Gemahlin wurdest.«
»Ich habe die Doktrin gelesen, und an Aufhebung kann ich mich nicht erinnern«, erwiderte ich nachdenklich. Im Geiste ging ich alle wesentlichen Punkte der Gesetze durch, die in Abbadon gelten.
»Dann hast du entweder ein äußerst schlechtes Gedächtnis, oder du hast die volle Bedeutung der Doktrin nicht erfasst, denn es ist alles dort festgehalten: die Gesetze, denen du zugestimmt hast, und die Strafen, die drohen, wenn du sie verletzt, was in deinem Fall den sofortigen Verlust deines Status bedeutet.« Sie lächelte, ein boshaftes Lächeln, das mich in meiner Annahme bestärkte, dass sie eine gute Dämonenfürstin abgeben würde. »Und der Verlust des Status bedeutet deine vollständige Vernichtung in dieser und allen anderen Existenzebenen.«
Gabriel blickte mich stirnrunzelnd an. »May, davon hast du mir gar nichts erzählt.«
»Ich habe dir nichts davon erzählt, weil in der Doktrin nichts davon steht, dass eine Gemahlin vernichtet wird«, erwiderte ich.
Entsetzen stieg in mir auf. »Ich schwöre, ich habe die Doktrin von vorne bis hinten gelesen, und nirgendwo steht etwas darüber, dass eine Gattin den Verlust ihrer Existenz riskiert.«
»Nicht in der Doktrin an sich«, belehrte mich Sally und betrachtete einen ihrer blassrosa Fingernägel.
»Nicht? Warum...«
»Sondern in einem der Anhänge«, unterbrach sie mich.
Schadenfroh fuhr sie fort:» Du hast doch bestimmt den Band mit den Anhängen gelesen?«
Ich blickte Gabriel an. Gerade wollte ich ihm erklären, dass ich gar nicht wusste, dass es so etwas wie Anhänge zur Doktrin überhaupt gab, als das Stück Drachenherz beschloss, ich hätte jetzt genug Zeit vergeudet und sollte mich endlich mal wieder paaren. Lust überschwemmte mich wie eine Flutwelle, und ich war auf einmal mit einem tiefen, verzweifelten Verlangen nach Gabriel erfüllt. Ich schlang die Arme um mich, damit ich mich ihm nicht an den Hals warf, und bemühte mich, mein heftig schlagendes Herz zu beruhigen. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf den inneren Kampf, der zwischen mir und dem Stück Drachenherz tobte, entschlossen, es ein für alle Mal zu besiegen. Ich würde nicht nachgeben. Ich würde Gabriel nur zu meinen Bedingungen haben wollen.
»May?«, fragte er. »Bist du krank?«
Seine Stimme glitt wie Seide über meine Haut, und ich zitterte vor Erregung. Ich öffnete die Augen, um ihm vorzuschwindeln, ich sei völlig erschöpft, aber dank seines sensiblen Drachenwesens verstand er, welche widerstreitenden Gefühle in mir tobten.
»Mein Vögelchen«, sagte er leise. Ich zitterte am ganzen Leih und verzehrte mich unendlich nach ihm. Er trat einen Schritt auf mich zu, und seine Augen glühten silbern, als er den stummen Schrei meines Körpers erwiderte. Die Wand hinter mir begann zu qualmen. Ich erstickte das Feuer, bevor es sich ausbreiten konnte. Immer noch kämpfte ich gegen die Gefühle an, die mich überfluteten. Gabriel trat noch einen Schritt auf mich zu. Er senkte den Kopf und blickte mir tief in die Augen.
»Hallo? Entschuldigt mal, aber es ist ausgesprochen unhöflich, jemanden plötzlich so zu ignorieren. May, wenn dir deine Existenz wirklich nichts bedeutet, dann soll es mir egal sein. Ich nehme mir einfach ein Zimmer im nächsten Sheraton. Aber ich glaube nicht, dass du dir über die Konsequenzen im Klaren bis! Nicht dass es mir etwas ausmacht, obwohl es schade ist, dass auch Gabriel sterben muss. Das stimmt doch, oder? Wenn die Gefährtin eines Drachen stirbt, stirbt er selbst auch, nicht wahr? Ich habe das irgendwo gelesen, obwohl ich das ziemlich unfair finde.«
»Gefährtin«, sagte Gabriel, und aus seinem Mund klang es wie eine Liebkosung.
Ich schloss eine Sekunde lang die Augen und grub meine Finger in den Stoff meiner Bluse, um ihn nicht zu berühren. Ich würde dem Stück Drachenherz nicht nachgeben. Ich würde mich nicht noch mehr verlieren. Sein Atem glitt warm über meinen Hals. Ich öffnete die Augen und drehte leicht den Kopf. Meine Finger schmerzten, so fest krallte ich sie in die Bluse, um dem unerwünschten Begehren nicht nachzugeben. Er atmete tief ein, und ich wusste, er inhalierte meinen Duft. Er wollte die Erinnerung daran auffrischen und ihn tief in seinem Körper bewahren.
»Geh«, sagte er. Seine Lippen glitten über mein Kinn.
Zitternd stand ich da und kämpfte mit mir selbst, überwältigt von einem schrecklichen Verlangen, das alles andere auslöschte. Seine Augen waren wie geschmolzenes Silber, die Pupillen nur noch schmale schwarze Schlitze. »Flieg, kleiner Vogel.«
Und plötzlich rannte ich aus dem Zimmer. Mein Blut rauschte mir in den Ohren, als ich die Treppe zu den unteren Etagen des Hotels hinunterlief. Ich bestand nur noch aus Laufen und den Bildern, die Gabriel mir von einem uralten Paarungsritual der Drachen schickte. Ich sehnte mich so sehr danach, ihn zu berühren, mit den Händen über seinen warmen Körper zu gleiten. Mein Körper floh, aber in Gedanken streichelte ich Gabriel, spürte die warme Haut über seinen stahlharten Muskeln. Ich stellte mir vor, wie meine Finger über die Konturen seiner Brust fuhren, während ich in meinem Kopf sein lustvolles Stöhnen vernahm. Ich dachte daran, wie er schmeckte, wie seidig sich seine Haut an den Innenseiten seiner Flanken anfühlte. Im Geiste hörte ich sein Grollen. Er warnte mich, dass seine Erregung hart und fest war und er sich nicht zurückhalten könne, wenn er mich fände. Hastig lief ich die Treppe hinab. Die mentale Verführung war kaum zu ertragen.
Seine Stimme sagte etwas in meinem Kopf, Worte, die keine Bedeutung für mich hatten, aber ich wusste, dass es ein Paarungsgesang war, der einen Drachen an den anderen bindet, Teil eines komplizierten Rituals, das wir sogar jetzt vollzogen.
Ich rannte das letzte Stockwerk hinunter, stürmte in die Hotelhalle, sah nichts, fühlte nichts, nur Gabriel, der sich an meine Verfolgung gemacht hatte. Seine Gefühle waren meine, eine gemeinsame Quelle, die gespeist wurde aus dem primitivsten Teil der Drachen - das Verlangen, zu jagen, zu erobern und vor allem zu besitzen.
Aber ich war kein Drache.